Effi Huber-Buser, Dr.sc.nat. ETH Tel.   +41 81 420 24 94
Zürcherstr. 37 f e-mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
CH-8852 Altendorf Mobiltel.   +41 79 302 63 21

 

Bei einer ausführlicheren Beschäftigung mit dem neuen Vorschlag Lehrplan 21 (im folgenden kurz LP21 genannt und abrufbar im Internet unter http://vorlage.lehrplan.ch/gesamtausgabe) , kann man sich mit diesem Monster voll von passenden und unpassenden pseudoakademischen Ausdrücken mit dem besten Willen nicht anfreunden. Vor allem ist meines Erachtens im LP21 die Formulierung der Kompetenzen nach wie vor schwammig und wird an viel zu vielen Stellen mit Variationen wiederholt. Eine einmalige klare Beschreibung der Begriffe, als Nachschlagewerk an den Anfang gestellt, sollte vernünftigerweise genügen. Damit wären wohl bereits etwa 100 Seiten dieses immer noch unförmigen und schlecht strukturierten Dokuments gespart. Das Wort Kompetenz erscheint auf 494 Seiten 1087 mal!

Der Lehrplan wird uns ja mit der Begründung – Umsetzung von HarmoS – angepriesen. Was aber sofort auffällt, sind die mangelnden fest definierten Lernziele. Vor allem fehlt das Wichtigste für eine Erfüllung von HarmoS, Jahreslernziele. Die vorgesehene Unterteilung der obligatorischen Schulzeit in drei mehrjährige Zyklen mit individuellem Lernen, lässt theoretisch z.B. zu, in zwei anstatt drei Jahren einen Zyklus abzuschliessen, oder ihn gar nicht zu erfüllen. Ewig kann man ja Schüler nicht im gleichen Zyklus behalten. Dies lädt die Möglichkeit ein, dass am Schluss praktisch Analphabeten die Schule verlassen. So erhält man mit dem LP21 für ein Kind bei einem Ortswechsel keine eindeutige Beurteilung des Bildungsstandes. Nicht einmal, wenn der Ortswechsel mit einem Zykluswechsel zusammenfällt.

Mit HarmoS wurde dem Stimmvolk bei Wohnsitzwechsel ein erleichterter Schulwechsel versprochen. Dies ist beim vorliegenden Modell LP21 nicht gewährleistet. Hätte man ein Schulmodell mit inhaltlich definierten Kernfächern für jedes Schuljahr festgeschrieben, und diese verbindlich erklärt, wäre damit wenigstens ein überkantonal akzeptierbares Grundgerüst entstanden. Bei diesen Kernfächern sollte nur der Stoff, nicht aber die didaktische Präsentation vorgeschrieben sein. Er sollte fachorientiert und nicht interdisziplinär, kompetenzorientiert festgelegt werden. Dies würde auch zu test- respektive vergleichbaren Lernerfolgen führen. Nebenfächer, wie Zeichnen, Musik, Fremdsprachen auf der Grundschulstufe sollten als Nebenfächer oder Wahlfächer eingestuft werden. Dies würde auch den einzelnen Kantonen, als Träger der Schulhoheit, noch eine gewisse Freiheit der Gestaltung erlauben. Neben- und Wahlfächer könnten bei Schulwechseln zur Erfüllung der Schulpflicht beigezogen und interkantonal anerkannt werden. Sie wären austauschbar. Der Kanon der Kernfächer könnte von der Unter- zur Oberstufe wechseln. Eltern wollen wissen, was auf sie zukommt, respektive was man von ihnen erwartet. Konkrete, verbindliche Angaben helfen. Die vielen wischi-wa-schi Kompetenzen sind nichts wert. Dies schon gar nicht, wenn man sie mit fragwürdigen ideologischen Inhalten über soziales Benehmen einführt. Ist das den Wählern seinerzeit versprochene Ziel von HarmoS bereits total verloren gegangen?

Im LP21 wird alles Fachwissen integrierend eingebaut, womit keine Gewährleistung eines nüchternen, nicht ideologisch gefärbten Basisverständnisses gegeben ist. Bildungsziele sind nur sehr pauschal und nicht eindeutig formuliert, dafür oft umso hochtrabender. Man spricht von Mathematik und meint für die Unterstufe ein einfachstes Zahlenverständnis und Rechnen. In der Physik wird bei den Themen nicht definiert, was für physikalische Gesetze als Voraussetzung zu behandeln sind. Es werden Beobachtungen reflektiert und die Schüler aufgefordert sich über technische Verfahren zu äussern, ohne grundlegende physikalischchemische Kenntnisse der verwendeten Materialien. Wo soll der beschriebene naturwissenschaftliche Lehrplan eingebaut werden, wenn man nur noch als Fach „Mensch und Natur“ oder „Mensch und Technik“ zulässt? Wieviele Schulstunden sind dafür eigentlich vorgesehen? Die Auswahl der Gebiete scheint vorwiegend von den heute in Medien und Politik breitgeschlagenen Themen bestimmt. Der Lehrplan stinkt nach zwangsweiser links-grüner Ideologie-Verbreitung durch die Schulen. Dabei sollten die Schüler einfach ein neutrales fachorientiertes Grundwissen aufbauen, mit dem sie dann Aufgaben des Alltagslebens selbständig beurteilen und bewältigen können.

Der Lehrplan ist unübersichtlich und man stutzt zu oft beim Lesen, „aber das habe ich doch gerade erst vorher schon einmal gelesen“, dh. es existieren zuviel unnötige Wiederholungen. Es fehlt auf der ganzen Linie eine inhaltliche Struktur, die Eltern und Lehrern ermöglicht, sich rasch über ein Fachgebiet oder die Anforderungen einer Schulstufe zu orientieren. Man hat den Eindruck, es sei ein Teamwork-Produkt, dessen Struktur nur durch den gemeinsam verwendeten „Wordprocessor“ festgelegt wurde. Auch Teamwork ist heute eines der schuli¬schen Zauberwörter. Im LP21 gibt es zwar Formulierungen von Bildungszielen, diese sind aber eine Sammlung von ideologischen Gemeinplätzen, die nichtssagender nicht sein könnten. „Die Schüler können....“ Man darf ruhig die Beschreibung der Bildungsziele, ja den ganzen LP21, als „pseudo-intellektuellen Obskurantismus“ bezeichnen. Das Wort „Lehrziel“ kommt im LP21 nicht vor. Die nicht-beurteilbaren und zu nichts verpflichtenden Kompeten¬zen sind über alles erhaben.

Zu jeder Schule gehört auch die Beurteilung des Unterrichts-Erfolgs. Mit fachorientierten Kernfächern wie Deutsch, Fremdsprachen, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie Geschichte und Geographie ist es möglich den erreichten Wissenstand zu prüfen und nicht einfach zu schauen, ob die politisch korrekte Ideologie in den Köpfen angekommen ist. Mit den im LP21 einzuführenden Unmengen von unterschiedlichen Kompetenzstufen, ohne klare, verbindliche Stoffbeschreibungen, beginnen die Schwierigkeiten des Testens. Wie will man eine einigermassen stichhaltige individuelle Beurteilung bei Teilleistungsschwächen sowie generell Vergleichbarkeit erreichen? Willkür ist angesagt. Wie beurteilt man kritisch denkende Jugendliche, die nicht ins Schema passen? Selbstverständlich als ungenügend, oder dumm. Dabei sind es oft solche, die versuchen genauer zu analysieren und die nicht gewillt sind, einfach aus der Hand zu fressen.

Nach meinem Durchforsten des LP21 mit der Fragestellung, welche Wörter werden wie häufig verwendet, zur groben Beurteilung der ihnen zugemessenen Wichtigkeit, wunderte ich mich: Was will man eigentlich erreichen, respektive testen? Das Verhalten der Schüler, ihr Wissen, oder wie es um den mittleren Bildungsstand steht in einem sogenannt gleichwerti¬gen Klassenverband? In einem allzu inhomogenen Umfeld ist nichts aussagefähig. Die Kompetenz-Philosophie will aber keine Homogenität sondern Vielfalt. Dies bedingt, dass man nur noch den gesamten (aber wie grossen?) Verband untersuchen kann mit Mittelwert, Streuung, Median etc. Allerdings sind diese Grössen auch wenig aussagekräftig, da wir es meist nicht mit einer normal verteilten Datenstruktur zu tun haben. Der LP21 enthält keine konkrete Anleitung, wie der Schulerfolg zu beurteilen ist. Zeugnisnoten oder summative Beurteilungen werden kantonal geregelt und sind nicht Teile des LP21. Dies heisst, Zeugnisse sind nicht vergleichbar, nur die Ideologie wird zentral geschaltet. Wo bleibt hier HarmoS?

Ein weiteres Thema ist die Fremdsprachenfrage. Dabei wird im LP21 geflissentlich übersehen, dass in den heutigen Schulklassen bis zu 70% der Schüler kein Deutsch als Erst-Sprache sprechen. In den letzten 20 Jahren wurden nicht nur noch Sprachgenies geboren, die spielend mehrere Sprachen bewältigen können. Dass der Fremdsprachenunterricht für mehrsprachige Kinder didaktisch vermutlich falsch erteilt wird, weil diese in verschiedenen Sprachen denken und nicht von einer in die andere übersetzen, sei dahingestellt. Die Kinder sollten mit dem für eine Mehrheit fremdartigen Umfeld nicht noch mit weiteren Sprachen konfrontiert werden. Wenn schon, wäre es wohl wichtiger, den Fremdsprachenunterricht in der Primarschule in variablen Gruppen auf die Muttersprachen der Kinder auszudehnen. Bei Muttersprache Deutsch könnte man ein Wahlfach Englisch oder Französisch anbieten. Nach LP21 sollen die Kinder ja einzeln gefördert werden, oder doch nicht? Eine stärker eingebaute Wahlfach-Struktur hätte einige Harmonisierungs-Probleme gelöst, da sie mit mehr Flexibilität auch Schulwechsel erleichtern würde.

Beim Überlegen, was man als Arbeitgeber von zukünftigen Lehrlingen/Lehrtöchtern oder Angestellten erwarten würde, kam mir die Formulierung - die Fähigkeit, die für sie vorgesehenen Arbeiten durchzuführen - in den Sinn. Also suchte ich das Wort Fähigkeit im LP21. Es ergaben sich 107 Treffer. Meine Erwartung war, so die von den Schülern zu erwerbenden Fähigkeiten ermitteln zu können.

Zu meinem grossen Erstaunen erwerben die Schüler aber nicht die Fähigkeit bestimmte Probleme zu lösen, sondern sie „entwickeln die Fähigkeit zur Problemlösung“. Die Schüler „lernen ihre eigenen Fähigkeiten einschätzen“. Sie lernen in einem andern Abschnitt die Fähigkeit sich selber zu charakterisieren. Bei den grossen Entwicklungssprüngen der Kinder während ihrer Schulzeit ändert sich auch der Charakter. Müssen jetzt die Schüler alle Halbjahre eine persönliche Charakteranalyse erstellen? Nur bei den Lehrern wird noch der Normalgebrauch des Besitzes von Fähigkeiten, wie pädagogisch-didaktische Kenntnisse und diagnostische Fähigkeiten, erwartet.

„Für den Schrifterwerb entwickeln Kinder ihre motorischen Fähigkeiten.“ Nein: Mit dem Schrifterwerb werden diese Fähigkeiten entwickelt, wie denn sonst?

Die ganze Leitlinie des Denkens zielt auf eine extrem egozentrische Betrachtungsweise der Umwelt durch die Schüler. Wie verträgt sich dies mit dem angeblich angestrebten toleranten Verhalten gegenüber Andersartigen, oder z.B. gegenüber den Lehrpersonen? Man stösst auf seitenlangen Unsinn, der sich in kleinen Variationen wiederholt. Kultur ist auch ein häufig anzutreffendes Wort. Da gibt es Feedback- und Fehlerkultur, Kulturtechniken, kulturbezogene Tugenden und anderes mehr. Ist das Verhalten eines unbotmässigen Schülers aus dem Balkan, der seine Lehrerin als verachtenswerte Frau betrachtet und nichts von ihr annimmt, so dass man ihn in eine Klasse mit Lehrer versetzen muss, jetzt unter kulturbezogene Tugend einzuordnen? Das Wort Disziplin gibt es ja im landläufigen Sinne nicht im LP21, nur als fachspezifische Bezeichnung. Hat dieser Schüler in der Zukunft einfach die Kompetenz „interkulturelle Verständigung“ nicht erfüllt? Oder ist etwa die Lehrerin hier fehl am Platz?

Wir haben ein Sportförderungsgesetz. Wird mit dem „Reflektieren über Sport“ und dem „Einschätzen der eigenen Leistungsfähigkeit“ diesem Genüge getan?

Man gibt zu, dass nicht alle Kinder musikalisch gleich begabt sind, aber man versucht, allen Musik beizubringen. Dass irgend etwas bei diesem Musikunterricht heute nicht stimmt, fällt einem auf, wenn die schlechteste Note im Zeugnis eines hochmusikalischen Schülers beim Fach Musik steht.

Als Reformvorschlag sollte, wie die verheerende Erfahrung mit einem LP21 ähnlichen Gebilde in Australien deutlich zeigte, eine wesentliche Entschlackung des fachübergreifenden Unterrichts in den Kernfächern stattfinden. In den meisten Fällen kann man bei diesen Fächern durch entsprechende Übungsaufgaben die Verbindung zum Alltagsbereich herstellen, ohne grosses Tamtam. „Sprachliche Förderungen beim Einführen eines mathematischen Vokabulars“ sind einfach nicht erwähnenswerter Unsinn. Jedem ist es klar, dass zum Erlernen eines Fachgebietes auch die dort gebräuchlichen Fachausdrücke gehören. „Mensch und Natur“ ist nicht gleich Naturwissenschaften. Hier sollten die einzelnen Fächer Physik, Chemie, Biologie und Geographie dringend zumindest im Zyklus 3 klar aufgeteilt und objektiv, dh. nicht Mensch bezogen, unterrichtet werden.

Mit dem LP21 werden dank der Kompetenzen-Ideologie sowohl Lehrer wie Schüler mit meist trivialen und daher normalerweise kaum diskutierten, weit übergewichteten Denkmustern überladen und verunsichert. Den überall eingeschleusten Sozialkompetenzen wird eine zu grosse, nicht überprüfbare Wichtigkeit attestiert.
Hinter jedem Lehrplan steht letztlich eine Implementation durch einen Stundenplan. Australische Lehrer beanstandeten, wenn man die in ihrem Lehrplan expliziten Vorschriften vollständig im Unterricht erfüllen wollte, müsste man doppelt soviele Unterrichtstunden zur Verfügung haben. Es ist zu befürchten, dass dies auch für den LP21 gilt. Was sollen die überlasteten Lehrer dann weglassen? Ein Lehrplan sollte erfüllbar sein. Beim LP21 hat man dafür keine Anhaltspunkte, man kann höchstens aus Erfahrungen andernorts lernen. Es ist zu befürchten, dass mit diesem Meisterwerk einfach noch mehr hyperaktive Kinder, oder solche mit massivem Schulverleider und Lehrer mit Burnout produziert werden.

Fazit: 10 Millionen aus dem Fenster geworfen für einen Lehrplan, der den Auftrag HarmoS nicht erfüllt. Eine Kostenprognose für die Umsetzung dieses Meisterwerks wird lieber vergessen.

Altendorf, 30. Dezember 2014

 

Zusätzlicher Kommentar von Peter J. Huber zu HarmoS und LP21

HarmoS wurde dem Stimmvolk als Auftrag zur Harmonisierung der kantonalen Lehrpläne verkauft – zur Erleichterung von Wohnortswechseln während der obligatorischen Schulzeit.

Jetzt wird der LP21 als Implementation des HarmoS-Auftrags angepriesen. Das ist grobe Irreführung!

Zur Erleichterung von Wohnortswechseln hätten klare, nach Schuljahren gegliederte Lehrziele in den Basisfächern (Lesen, Schreiben, Rechnen, Deutschunterricht) gegeben werden müssen, und auch Stundenzahlen zur Gewichtung der Fächer. Das ist nicht der Fall – es werden lediglich, in etwas schwammiger Form, die „Kompetenzen“ aufgeführt, die am Ende der drei Zyklen, d.h. am Ende der 2., 6. und 9. Klasse, von den Schülern erwartet werden.

Die Notengebung wird zum Beispiel nicht vereinheitlicht, sondern explizit den Kantonen überlassen. Ebenso das Latein.

Wenn es den Verfassern wirklich um Harmonisierung gegangen wäre, hätten sie, statt getrennte Lehrpläne für verschiedene erste Fremdsprachen aufzustellen, die beiden Sprachen ausdrücklich als Wahlfächer angeboten – der wohl einzige Kompromiss, der einen Wohnortswechsel zwischen Englisch oder Französisch als erster Fremdsprache für die Schüler erträglich gestalten würde.

Altendorf, 7. Dezember, 2014