Kompetenzen, Standards, Evaluation und Monitoring gehören zusammen. Politik, Beamtenschaft und allerlei Experten setzen Bildungsstandards, die dann als erreicht gelten, wenn sich die Lernenden über die entsprechenden Kompetenzen ausweisen können. Ob die Standards erreicht wurden, ob die Kompetenzen sitzen, wird durch wiederkehrende normierte und generalisierte Testreihen überprüft. Die derart gewonnenen Daten werden an eine zentrale Instanz nach oben gemeldet und sollen per Weisung an die Lehrerschaft die ständige Optimierung des Unterrichts vorantreiben. Diese permanente Observierung des Unterrichtserfolgs auf dem Monitor der Erziehungsbehörden nennt sich Monitoring. Monitoring ist der Traum jedes Bildungsbürokraten, denn es erlaubt die externe Steuerung des Bildungssystems anhand von statistisch erhobenen Zahlen. Zahlen legitimieren sich selbst, auch wenn sie immer durch Vernachlässigung zahlreicher Aspekte entstehen, welche die "Eindeutigkeit" der statistischen Befunde untergraben könnten. Bildungsbürokraten argumentieren nicht pädagogisch, sie argumentieren gar nicht und legen einfach Zahlen vor. Vorbei ist die Zeit der Diskussionen über Werte und Inhalte.
Diesem neuen Machtanspruch - einer Art statistischem Positivismus - liegt der Glaube an die totale rationale Steuerbarkeit des Bildungssystems als ganzem und des Lernprozesses jedes einzelnen auf individueller Ebene zugrunde. Hier kommt auch der Krampfbegriff der "Selbstkompetenz" ins Spiel. Die Idee dabei: Jeder Lernende steuert seine kleine Ich-AG selbstorganisiert. Durch Selbstreflexion anhand von Checklisten findet er seine Defizite im Hörverstehen und klopft sich zum Ausgleich auf die Schulter für sein überdurchschnittliches Textverständnis. Jetzt ist klar, wo er sich ins Zeug legen muss. Dass ein Mensch mit all seinen Begabungen mehr ist als eine Ansammlung von Einzeleigenschaften, die sich in einer Technokratenbibel wie dem gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (GER) darstellen lassen, geht dabei vergessen. Auch die neuere Hirnforschung hat längst festgestellt, dass der wohl entscheidende Faktor für ein konstruktives Lernklima die Lehrer-Schülerbeziehung ist.1 Das meiste, was in einem Schulzimmer abläuft, ist infrarational und suprarational. Das Rationale ist nur ein schmaler Silberstreifen am Horizont, der das Meer vom Himmel trennt. Was wirklich zählt, ist die Begeisterung einer Lehrperson für ihr Fach, für ein Thema; diese Begeisterung hat einen Ansteckungseffekt auf die Klasse. Es sind ein aufmunterndes Wort, ein freundlicher Blick, das Eingehen auf einen Schülerbeitrag, die dem jungen Menschen das Gefühl geben, dass er zählt und ihn zu neuen Leistungen anspornen. Es sind die Erfahrung und die Intuition einer guten Lehrerin, die spürt, dass ein bestimmter Schüler Wertschätzung und Zuwendung braucht und ein anderer klare Grenzen; einer Lehrerin, welche der Gemeinschaft im Klassenzimmer vermittelt, dass man gemeinsam wertvolle Zeit verbringt und wächst. Es ist das Gefühl, sich mit für die heutige Zeit relevanten Inhalten auseinanderzusetzen, die Welt und sich selbst besser verstehen zu lernen, die Sinn stiften. Kompetenzen optimieren kann man auch im Fernkurs; geistiger Austausch geschieht nur in der persönlichen Beziehung.
Vergessen wir nicht: Das Gymnasium ist die Zeit, in der Kinder zu Jugendlichen und Jugendliche zu Erwachsenen werden. Es ist eine Zeit grosser Turbulenzen für unsere jungen Menschen. Das Persönliche ist dabei enorm wichtig, und genau dieses Persönliche versucht die Kompetenzorientierung auszuschalten, da es nicht beherrschbar ist und Vertrauen statt Kontrolle erfordert. Wer glaubt, Jugendliche würden mit Begeisterung in jedem Fach ihre Checklisten abarbeiten und ihren Lernprozess damit detailliert steuern, um sich laufend zu verbessern, hat schon länger keinen Schüler mehr aus der Nähe gesehen. Die Schüler haben bereits genügend Feedback durch Zahlen, die Noten heissen und auch nicht subjektiver oder objektiver sind als abstrakte Kompetenzen europäischen Ursprungs. Das genügt. Diesem System nun ein zweites Bewertungssystem überzustülpen, das viel wertvolle Unterrichtszeit – Zeit und Musse für Begegnung und Menschlichkeit – aufzehrt, ist ein Widersinn. Dass der Kompetenzenfetischismus nicht etwas eine Methode unter vielen konkurrierenden ist, zeigt die laufende Neuformulierung des Aargauer Lehrplans für Mittelschulen, der im Sinne von Best Practice (Lernen von den Besten) wohl als Modell für die "Harmonisierung" der Lehrpläne anderer Kantone dienen dürfte. Der aargauische Mittelschullehrerverband kritisiert zu Recht die hundertprozentige Abdeckung durch das Kompetenzmodell, das keinen Raum für anderen Unterricht mehr lässt. 2
René Machu, Wettingen, ist Gründungsmitglied des Forums Allgemeinbildung Schweiz (fach), das sich kritisch mit den gegenwärtigen Entwicklungen am Gymnasium auseinandersetzt. www.forum-allgemeinbildung.ch1) Siehe hierzu: Bauer, Joachim: "Lob der Schule"
2) http://a-m-v.ch/wordpress/wp-content/uploads/2011/06/AMV_Positionspapier_Lehrplanrevision_2011.pdf