Dr. Markus Erb, Präsident «Bürger für Bürger»
Die Bundesverfassung von 1874 war ein Meisterwerk, das eine weit über die Grösse unseres Landes hinausragende Bedeutung beanspruchen konnte. Diese Bundesverfassung, die in der Geschichte des modernen europäischen Verfassungslebens eine sehr gewichtige Stellung einnimmt, regelte die staatsrechtlichen Beziehungen zwischen den Kantonen in klugem Ausgleich der Kräfte, ohne krasse Disparitäten. Die Beziehung zwischen Bund und kantonaler Hoheit berücksichtigte die konkreten, historisch gewachsenen Verhältnisse, was eine Übermacht des Bundes verhindert hat. Das Volk als oberste Staatsgewalt hat mit Referendum und Initiative, die selbst in Steuer- und Sachfragen die Mitbestimmung garantieren, Fehlentwicklungen ins Extreme verhindert. Dank dieser Verfassung ist die Schweiz trotz ihren vier verschiedenen Sprach- und Kulturgruppen – den Rätoromanen, dem Tessin, der Romandie und der Deutschschweiz – und trotz der in Reformierte und Katholiken geteilten Bevölkerung zu einem, selbst die Wirren der beiden Weltkriege überlebenden, stabilen Staat und zur einzigen lebendigen Demokratie in ganz Kontinentaleuropa geworden.
Zugegeben: Dem Neoliberalismus, dem eine "Schweiz AG" viel grösseren Gewinn bringt, als eine stabile Schweiz mit einer lebendigen Demokratie, ist das Meisterwerk von 1874 quer im Wege gestanden. Diese Bundesverfassung musste weg, was den neoliberalen Kräften im und um den Bundesrat 1999 gelungen ist. Jetzt war die Schweiz vogelfrei und deren Einwohner den Plünderern ausgeliefert.
Wer will es leugnen? Die Dreistigkeit mit der uns 1999 die neue Bundesverfassung mit der verlogenen Behauptung: "Es gibt keine materiellen Änderungen in der neuen Bundesverfassung" untergejubelt worden ist, haben die ehrbaren Schweizerbürger dem Bundesrat nicht zugetraut. Sie haben ihm geglaubt und bauend auf seine Ehrbarkeit diesem subversiven Trojaner mit dem darin subtil versteckten Gefahrenpotential vertrauensvoll zugestimmt. Entlarvend hat der damals zuständige Bundesrat Arnold Koller in der auf die Abstimmung folgenden Pressekonferenz scheinbar eingestanden, dass die Stimmberechtigten im Wissen um die Gefährlichkeit der darin schlummernden Viren, dieser Verfassung nicht zugestimmt hätten.
Verfassungswidrig war auch die Abstimmung über die echt neue Bundesverfassung mit ihren bedeutenden Neuerungen. Das Buch: "Schweizerische Bundesverfassung 1874/1999 – ein Vergleich" von Prof. H.U. Walder, welches bei "Bürger für Bürger" für einen Unkostenbeitrag von CHF 15.– / p. Expl. inkl. Porto, bezogen werden kann, macht den bedeutenden Unterschied der beiden Verfassungen deutlich. Dennoch: Statt des Abstimmungsverfahrens einer Totalrevision mit Neuwahl des Parlaments und qualifizierter Abstimmung, ordnete der Bundesrat lediglich das Verfahren für eine Teilrevision an. Die Stimmbürger haben damit lediglich über eine "Nachführung" (so der Tarnausdruck) der bisherigen Bundesverfassung von 1874 abgestimmt, nicht jedoch über deren Totalrevision. Zu dieser Frage sind die Stimmbürger nie befragt worden, womit – der Logik folgend – das Volk der neuen, total revidierten Verfassung auch gar nicht zugestimmt hat.
Daran haben sich weder Bundesrat noch Parlament je gestossen. Für sie ist die neue Bundesverfassung der entscheidende Schritt zur Zerstörung der alten Ordnung, der Schritt in die Zukunft zum Neoliberalismus mit einer "Schweiz AG". Seither breitet sich in der Schweiz Verachtung der Bürgerrechte und eine gefährlich Ballung der Macht an der Spitze aus. Nein: Heute ist nichts mehr wie unter dem alten Meisterwerk von 1874!
Und! Wie gehen wir damit um? Schweigen wir weiterhin? Schweigen Sie … das würde uns interessieren.